Hinter allem, was im weltall geschieht, steht Gott durch seine Schakti, doch ist er von seiner Joga-Maja verschleiert und arbeitet in der niederen natur durch das ich des einzelnen.

Gespräche 1929

21 April 1929

- Die Mutter

Es ist eine weitverbreitete Ansicht, dass Visionen ein Zeichen hoher Spiritualität seien. Ist das so ?

 

Nicht unbedingt. Im übrigen ist Visionen haben eine Sache, das Geschaute verstehen und deuten aber eine andere, und zwar viel schwierigere.

Im allgemeinen werden Leute von Visionen irregeführt, weil sie diesen einen Sinn beilegen, der ihren Wünschen, Hoffnungen und vorgefassten Meinungen zusagt. Zudem gibt es verschiedene Ebenen, auf denen man sehen kann. Es gibt die geistige Schau, die vitale, und es gibt einige, die der stofflichsten Ebene sehr nahe sind. Diese letzteren erscheinen in Formen und Symbolen, die so klar, wirklich und greifbar sind, dass sie völlig materiell aussehen. Und wenn ihr sie zu deuten versteht, könnt ihr sehr genaue Hinweise auf die Umstände und die psychologische Verfassung von Leuten erhalten.

Geben wir ein Beispiel. Dies ist eine Schauung, die jemand wirklich gehabt hat: Im brennenden Sonnenschein klimmt ein steiler Weg einen abschüssigen Berghang hinan. Auf ihm rückt mühsam eine von sechs starken Pferden gezogene schwere Kutsche vorwärts. Sie bewegt sich langsam, aber stetig. Nun kommt ein Mann, überblickt die Lage, stellt sich hinter das Gefährt und versucht, es den Berg hinaufzuschieben. Da erscheint jemand, der das Wissen hat, und sagt ihm: ,,Was quälst du dich vergeblich ab ? Meinst du, deine Anstrengung sei zu irgend etwas nütze ? Für dich ist das doch ein unmögliches Beginnen, sogar die Pferde finden es schwierig."

Der Schlüssel zum Sinn dieser Schauung liegt im Bild der sechs Pferde. Das Pferd symbolisiert die Kraft, die Zahl sechs die göttliche  Schöpfung. Die Kutsche steht für die Verwirklichung, vielmehr das, was verwirklicht, vollbracht, zum Gipfel geführt werden soll, auf die Höhe, wo das Licht sich befindet. Diese Schöpfungskräfte sind göttlich, und dennoch ist auch für sie eine harte Anstrengung nötig, um diese Verwirklichung zu erreichen; denn sie müssen unter sehr ungünstigen Bedingungen arbeiten, gegen alle Naturkräfte ankämpfen, die nach unten ziehen. Da tritt nun der Mensch auf und hält sich in seiner Anmaßung und Unwissenheit für jemand, der mit seinem bisschen Geist etwas zuwege bringen kann. Dabei wäre es das Beste für ihn, in die Kutsche einzusteigen, sich gemütlich hinzusetzen und die Pferde ziehen zu lassen.

Träume sind etwas ganz anderes. Sie sind schwieriger zu deuten, weil jeder eine eigene Bilder- und Formenwelt für seine Träume hat. Es gibt natürlich Träume, die nicht viel sagen, jene nämlich, die mit der äußerlichsten physischen Bewusstseinsschicht in Verbindung stehen und die das Ergebnis schweifender Gedanken, flüchtiger Eindrücke, mechanischer Reaktionen oder reflexhafter Tätigkeiten sind. Diese Träume sind in Form, Struktur und Bedeutung nicht organisiert; man erinnert sich ihrer kaum, und sie hinterlassen beinah keine Spur im Bewusstsein. Doch auch die Träume, die einen etwas tieferen Ursprung haben, sind noch dunkel, weil sie insofern persönlich geprägt sind, als ihre Gestalt fast ausschließlich von Erfahrungen und Eigentümlichkeiten des Einzelnen abhängt. Allerdings bestehen auch Visionen aus Symbolen, die nicht notwendig in der ganzen Welt Geltung haben. Die Symbolik ist je nach Rasse, Überlieferung und Religion verschieden. Ein Zeichen kann spezifisch christlich, ein anderes hinduistisch sein, ein drittes dem ganzen Osten gemeinsam zugehören, ein viertes nur dem Westen. Träume dagegen sind persönlich, sie hängen von Umständen und Eindrücken des Tages ab. Es ist sehr schwierig für einen Menschen, die Träume eines anderen zu erklären oder zu deuten. Doch kann jeder seine eigenen Träume erforschen, sie entwirren und ihren Sinn entdecken.

Ihr möchtet wissen, wie ihr mit den Träumen und dem Traumland umgehen sollt ? Werdet zuerst einmal bewusst, eurer Träume bewusst! Achtet auf die Zusammenhange zwischen ihnen und den Stunden des Wachseins. Erinnert ihr euch eurer Nächte, so wird es euch sehr oft möglich sein, eine Beziehung zwischen eurem Zustand am Tage und dem in der Nacht zu erkennen. Während des Schlafes geht auf der geistigen, vitalen oder einer anderen Ebene stets etwas vor sich; da geschehen Dinge, die euer

Wachbewusstsein beherrschen. Zum Beispiel sind manche sehr darauf bedacht, sich zu vervollkommnen und strengen sich tagsüber mächtig an. Dann legen sie sich schlafen, und wenn sie am Morgen aufwachen, finden sie von der Bemühung des Vortages keine Spur mehr vor; sie müssen denselben Weg noch einmal gehen. Das zeigt, dass ihre Anstrengung und was sie erreichten den oberflächlichsten oder wachsten Teilen des Wesens zugehörten; doch andere Teile, tiefere oder schläfrigere, sind nicht berührt worden. Im Schlaf gerät man unter den Einfluss dieser Gebiete, die alles verschlucken, was in den Stunden des Wachseins so eifrig aufgebaut wurde.

Seid bewusst! Seid euch der Nacht ebenso bewusst wie des Tages. Zunächst gilt es bewusst zu werden, nachher könnt ihr Kontrolle ausüben. Die sich ihrer Träume erinnern, kennen die Erfahrung, im Traum zu wissen, dass sie träumen; sie wissen, dass sie etwas erleben, das nicht zur stofflichen Welt gehört. Hat man einmal dies Wissen, so kann man dort auf die gleiche Weise handeln wie in der stofflichen Welt; man fühlt sich nicht mehr ans Geschehen gebunden; während man träumt, kann man seinen bewussten Willen einsetzen und den Lauf der Traumereignisse völlig andern.

Und indem ihr immer bewusster werdet, beginnt ihr euer Wesen während der Nacht ebenso gut in der Gewalt zu haben wie während des Tages, ja vielleicht noch besser. Denn in der Nacht seid ihr der Abhängigkeit vom leiblichen Mechanismus wenigstens teilweise ledig. Die Aufsicht über die Vorgänge im leiblichen Bewusstsein ist viel schwieriger, denn diese sind starrer und für Änderung weniger empfänglich als jene des Geistes und des Vitalen.

In der Nacht sind der Geist und das Vitale — vor allem letzteres — sehr aktiv. Am Tag werden sie in Schach gehalten; das physische Bewusstsein zügelt automatisch das freie Spiel ihres Ausdrucks. Im Schlaf ist der Zaum abgenommen, und sie zeigen sich in der ganzen Ursprünglichkeit ihrer natürlichen Regungen.

 

Was ist die Natur des traumlosen Schlafs ?

Im allgemeinen handelt es sich bei dem, was ihr traumlosen Schlaf nennt, um eines von zwei Dingen: entweder erinnert ihr euch dessen nicht, was ihr geträumt habt, oder ihr seid in völlige Unbewusstheit gesunken, die sehr dem Tod gleicht, ja ein Vorgeschmack des Todes ist. Doch gibt es einen Schlaf, wo alle Teile des Wesens in Reglosigkeit, Frieden, völliges Schweigen verfallen und das Bewusstsein in Satschidananda eintaucht. Dieser Zustand lässt sich kaum als Schlaf bezeichnen, denn er ist äußerst bewusst. Ein paar darin verbrachte Minuten geben mehr Ruhe und Erholung als Stunden gewöhnlichen Schlafs. Aber das erlangt ihr nicht von ungefähr; lange Übung ist nötig.

Wie geschieht es, dass man im Traum Leute kennerlernt, denen man dann im äußeren Leben begegnet ?

Das kommt von Übereinstimmungen, die bestimmte Personen einander näherbringen, Übereinstimmungen in der geistigen oder vitalen Welt. Die Menschen begegnen sich oft auf diesen Ebenen, bevor sie sich auf der Erde treffen. Sie können dort zusammenkommen, miteinander sprechen und alle Beziehungen zueinander haben, die es in der physischen Welt gibt. Manche wissen um diese Betätigungen, andere nicht. Viele, ja die meisten, sind sich ihres inneren Wesens und seiner Beziehungen nicht bewusst, und dennoch kommt ihnen ein bestimmtes neues Gesicht, wenn sie ihm in der äußeren Welt begegnen, ganz bekannt, irgendwie vertraut vor.

Gibt es keine falschen Visionen ?

Es gibt tatsächlich Visionen, die man als falsch bezeichnen könnte. Zum Beispiel gibt es Hunderte und Tausende von Leuten, die behaupten, Christus gesehen zu haben. Von allen diesen haben ihn wohl weniger als ein Dutzend wirklich gesehen, und selbst bei diesen gäbe es noch einiges darüber zu sagen. Was die andern erblickt haben, ist vielleicht eine Emanation oder ein Gedanke oder auch nur eine Vorstellung. Es gibt auch große Christusgläubige, die eine Kraft, ein Wesen, ein sehr leuchtendes Erinnerungsbild geschaut haben, das auf sie einen starken Eindruck machte. Sie sahen etwas, von dem sie fühlten, dass es zu einer andern Welt, zu etwas Übernatürlichem gehörte, und das hat in ihnen eine Gemütsbewegung der Ehrfurcht, Verehrung oder Freude geweckt, und weil sie an Christus glaubten, könnten sie sich nichts anderes denken, als dass er es sei. Doch würde dieselbe Schauung oder Erfahrung, wenn sie einem Hindu, einem Moslem oder sonst jemandem zuteil würde, eine andere Form und einen anderen Namen annehmen. Das Geschaute oder Erfahrene mag im Grunde dasselbe sein, aber gemäß den Auffassungen des betrachtenden Geistes druckt es sich verschieden aus. Einzig jene, die über alle Bekenntnisse, Glaubensformen, Mythen und Überlieferungen hinausgehen können, sind in der Lage zu sagen, was es wirklich ist; doch solche gibt es nur sehr wenige. Man muss aller Gedankengebäude ledig sein, von allem befreit, was bloß örtlich oder zeitlich ist, bevor man zu wissen vermag, was man sieht.

Spirtliche Erfahrung ist die Fühlung mit dem Göttlichen in einem selbst (oder außerhalb, was auf dasselbe hinauskommt). Und diese Erfahrung ist überall und immer ein und dieselbe, in allen Ländern, bei allen Völkern, sogar zu allen Zeiten.

Tretet ihr mit dem Göttlichen in Verbindung, so ist diese Verbindung immer dieselbe, wo oder wann es auch sei. Die Unterschiede treten auf, weil zwischen der Erfahrung und ihrem Ausdruck etwas wie eine Kluft besteht. Sobald ihr eine spirtliche Erfahrung habt (die stets in eurem Bewusstsein stattfindet), übertragt sie sich eurem äußeren Bewusstsein entsprechend der Erziehung, dem Glauben, der geistigen Ausrichtung. Es gibt nur eine Wahrheit, eine Wirklichkeit; aber Formen, in die sie sich übertragt, kann es unzählige geben.

Welcher Art waren die Visionen von Jeanne d'Arc ?

Jeanne d'Arc stand offenbar mit Wesenheiten in Beziehung, die dem zugehören, was wir die Welt der Götter nennen (oder, wie die Katholiken sagen, die Welt der Heiligen, obschon das nicht ganz das gleiche ist). Die Wesen, die sie sah, nannte sie Erzengel. Diese Wesen gehören zur Mittelwelt zwischen dem höheren Geist und dem Übergeist, zur Welt, die Sri Aurobindo den Obergeist nennt.

Das ist die Welt der Schöpfer, der Bildner [formateurs]. Würden dieselben Wesen, die Jeanne d'Arc erschienen und zu ihr sprachen, von einem Inder erblickt, so nähmen sie für ihn ein ganz anderes Aussehen an; denn beim Sehen überträgt man auf das Gesehene die dem Geist vertrauten Formen. Man verleiht dem, was man sieht, das Aussehen dessen, was man zu sehen gewärtigt. Erschiene ein Wesen einer aus Christen, Buddhisten, Hindus und Schintoisten zusammengesetzten Gruppe, so gäbe ihm jeder einen anderen Namen, jeder beschriebe die Erscheinung in unterschiedlicher Weise, und dennoch sprachen alle von ein und derselben Offenbarung. Die man in Indien die Göttliche Mutter nennt, ist für die Katholiken die Jungfrau Maria, für die Japaner Kwannon, die Göttin der Barmherzigkeit, und wieder andere geben ihr noch andere Namen. Es ist dieselbe Kraft, dieselbe Macht, doch wird sie in jeder Religion anders dargestellt.

Welchen Platz nimmt die Disziplin bei der Hingebung ein ? Wenn man sich überantwortet, kann man dann nicht auf Disziplin verzichten ? Ist Disziplin nicht manchmal ein Hindernis ?

Das kann vorkommen. Man muss aber unterscheiden können zwischen einer Entwicklungsmethode oder Disziplin und einem willentlichen Tätigsein. Wenn ihr dem Weg der Hingebung folgt, müsst ihr der persönlichen Anstrengung ein Ende setzen; das heißt aber nicht, dass ihr auch allen Willen beim Tun aufgeben sollt. Ihr könnt im Gegenteil die Verwirklichung beschleunigen, indem ihr euren Willen dem göttlichen Willen zugesellt. Auch das ist Hingebung, in anderer Form. Erforderlich ist nicht passive Unterwerfung, die euch zu einem trägen Klotz werden lässt, sondern dass ihr euren Willen dem Göttlichen zur Verfügung stellt.

Wie aber lässt sich das tun, bevor die Einung vollzogen ist ?

Ihr habt einen Willen, und diesen könnt ihr darbringen. Ihr wollt zum Beispiel eurer Nächte bewusst werden. Nehmt ihr nun die Haltung passiver Unterwerfung ein, so sagt ihr euch: ,,Sobald es der Wille des Göttlichen ist, dass ich bewusst werde, wird es geschehen." Bringt ihr hingegen euren Willen dem Göttlichen dar, so fasst ihr einen Entschluss und sagt: ,,Ich werde meiner Nächte bewusst werden." Ihr wollt, dass es sei; ihr wartet nicht einfach untätig ab. Die Hingebung kommt ins Spiel, wenn ihr euch so einstellt: ,,Ich gebe meinen Willen dem Göttlichen, habe aber nicht das Wissen; möge der göttliche Wille in mir vollbringen." Euer Wille muss ständig weiterwirken, nicht im Wählen einer bestimmten Tätigkeit, nicht im Verlangen nach irgend etwas, sondern als auf das Ziel gerichtete glühende Sehnsucht. Das ist der erste Schritt. Wenn ihr wachsam und aufmerksam seid, erhaltet ihr sicher einen Wink in Gestalt einer Eingebung, was zu tun ist, und ihr macht euch unverzüglich an die Ausführung. Nur dürft ihr nie vergessen: Hingebung verlangt, dass ihr das Ergebnis eures Tuns annehmt, wie es auch sei, selbst wenn es ganz anders ist, als ihr erwartet habt. Ist dagegen eure Hingebung bloß passive Unterwerfung, so wollt und versucht ihr nichts, und indem ihr auf das Wunder wartet, schlaft ihr ganz einfach ein.

Um zu wissen, ob euer Wille und euer Begehren mit dem göttlichen Willen übereinstimmen oder nicht, müsst ihr achtgeben, ob ihr darauf eine Antwort bekommt oder nicht, ob ihr euch bestätigt oder widersprochen fühlt — nicht vom Geist, vom Vitalen oder vom Körper, sondern von etwas, das immer in eurem inneren Wesen da ist, tief im Grunde eures Herzens.

Ist nicht eine zunehmende Meditationsbemühung nötig ? Ist es nicht so, dass man umso größere Fortschritte macht, je mehr Stunden man meditiert ?

Spirtlichen Fortschritt kann man nicht an der Zahl der in Meditation verbrachten Stunden messen. Erst wenn Meditieren keine Mühe mehr macht, seid ihr wirklich vorangekommen. Es kommt ein Zeitpunkt, wo man sich eher anstrengen muss, der Meditation ein Ende zu setzen; es fällt schwer, nicht zu meditieren, schwer, aufzuhören an das Göttliche zu denken, schwer, ins gewöhnliche Bewusstsein zurückzukehren. Ihr dürft gewiss sein, einen wahren Fortschritt gemacht zu haben, wenn die Ausrichtungauf das Göttliche zur Notwendigkeit eures Lebens geworden ist, wenn ihr ohne sie nicht mehr auskommt, wenn sie von früh bis spät natürlich anhält, ganz gleich was ihr sonst noch tut, ob ihr euch zum Meditieren hinsetzt oder euch handelnd und arbeitend bewegt. Worauf es ankommt, ist das Bewusstsein; nur eines ist nötig: ständig des Göttlichen bewusst zu sein.

Ist es denn nicht eine unerlässliche Disziplin, sich zum Meditieren hinzusetzen, und erreicht man damit nicht eine intensivere und konzentriertere Einung mit dem Göttlichen ?

Das ist möglich. Aber eine Disziplin als solche ist es nicht, was wir anstreben. Auf das Göttliche ausgerichtet sein bei allem, was wir tun, in allen Tätigkeiten, allen Regungen, das ist es, was wir wollen. Es gibt hier einige, die zum Meditieren angehalten werden; aber andere sind da, von denen es nie verlangt worden ist. Deswegen darf man aber nicht glauben, dass diese keinen Fortschritt machen. Auch sie befolgen eine Disziplin, doch von anderer Art. Mit Andacht und einer inneren Weihung arbeiten und handeln ist auch eine spirtliche Disziplin. Das Endziel ist, mit dem Göttlichen ständig vereint zu sein, nicht nur in der Meditation, sondern in allen Umständen des tätigen Lebens.

Es gibt welche, die beim Meditieren in einen Zustand treten, der ihnen sehr bedeutend und köstlich erscheint. Darin sitzen sie, mit sich selbst zufrieden, und vergessen die Welt; werden sie aber gestört, so kommen sie wütend und aufgeregt heraus, weil ihre Meditation unterbrochen worden ist. Das ist gewiss kein Zeichen von spirtlichem Fortschritt. Manche andere, die ein tätiges Leben führen, scheinen ihre Meditation zu bestimmter Stunde für eine Pflicht zu halten, die sie dem Göttlichen schulden, sie sind wie die Leute, die einmal wöchentlich zur Kirche gehen, und meinen, so hätten sie Gott gegeben, was ihm gebührt.

Wenn ihr euch anstrengen müsst, um in Meditation zu treten, seid ihr noch sehr weit davon entfernt, ein spirtliches Leben führen zu können. Bedarf es hingegen einer Anstrengung aus ihr herauszukommen, dann kann eure Meditation anzeigen, dass ihr im spirtlichen Leben seid.

Es gibt Disziplinen wie den Hatha-Joga und den Radscha-Joga, die man üben kann, ohne mit dem spirtlichen Leben irgend etwas gemein zu haben; der erstere führt vor allem zu Körperbeherrschung, der letztere zur Kontrolle des Geistes. In das spirtliche Leben eintreten aber heißt ins Göttliche eintauchen, wie man ins Meer taucht. Und das ist nicht das Ende, sondern erst der Anfang; denn nachdem man den Sprung gewagt hat, muss man lernen im Göttlichen zu leben. Wie man das macht ? Ihr müsst, einfach drauflosspringen, ohne zu denken, ,,wohin falle ich ? was wird mir geschehen ?" Das Zaudern eures Geistes und eures Vitalen hindert euch daran, es zu tun. Lasst euch ganz einfach los. Wenn ihr ins Meer tauchen wollt und dauernd denkt: ,,Ist hier auch nicht ein Fels und da ein Stein ?", dann springt ihr nie.

Aber das Meer sieht man, und so kann man hineinspringen. Wie soll man in das spirtliche Leben springen ?

Man muss natürlich einen Schimmer von der göttlichen Wirklichkeit erhascht haben, so wie man das Meer sehen und einbisschen kennen muss, bevor man hineintaucht. Dieser Schimmer kommt im allgemeinen durch ein Erwachen des seelischen Bewusstseins. Jedenfalls ist irgendeine Verwirklichung dazu nötig — ein starker geistiger oder vitaler, wenn nicht ein tiefer seelischer oder gar ein ganzheitlicher Kontakt. Die göttliche  Gegenwart muss in oder um uns tief wahrgenommen worden sein; man muss den Hauch der göttlichen Welt gespürt haben. Und auch den entgegengesetzten Hauch muss man empfunden haben, den des gewöhnlichen Lebens, und zwar als beklemmenden Druck, der euch irgendwie dazu zwingt, aus seiner erstickenden Atmosphäre auszubrechen. Habt ihr das erlebt, so bleibt euch nur noch, ohne Einschränkung in der göttlichen Wirklichkeit Zuflucht zu suchen, unter ihrem Schutz und mit ihrer Hilfe zu leben, und nirgends sonst. Diese Überantwortung, die ihr vielleicht im Laufe eures gewöhnlichen Lebens teilweise geleistet habt, in einem oder mehreren Teilen eures Wesens, in gewissen Augenblicken oder bei bestimmten Gelegenheiten, müsst ihr vollständig und endgültig leisten. Das ist der Sprung, den ihr wagen müsst; und solange ihr das nicht tut,

könnt ihr jahrelang Joga praktizieren und dennoch nichts vom spirtlichen Leben wissen. Macht diesen Sprung ganz und gar und ohne Vorbehalt, und ihr werdet von der Verwirrung der äußeren Welt befreit, euch wird die wirkliche Erfahrung des spirtlichen Lebens zuteil.


Children's Corner
Alle Zitate und Auszüge aus der schriftlichen Werken von Sri Aurobindo und die Mutter und die Fotos der Mutter und Sri Aurobindo sind urheberrechtlich Sri Aurobindo Ashram Trust, Pondicherry -605002 Indien.